Der Beitrag Ostdeutschlands zur deutschen und europäischen Geistes- und Kulturgeschichte.

Beitrag von Fritz Gause auf den Seiten  579-597 in:

„Das östliche Deutschland“,

herausgeben vom Göttinger Arbeitskreis 1959

 

Landschaft und Baukunst

Durch Besiedlung aus Mittel- und Nordwestdeutschland, aus Flandern, Holland, später auch aus dem Salzburgischen und der Pfalz erhielt die ostdeutsche Landschaft im Laufe der Jahrhunderte ein neues Gesicht; sie veränderte sich in einem Ausmaß und mit einer Intensität, die etwa mit der Umgestaltung der Agrarlandschaft des 19. Jahrhunderts durch die Industrie vergleichbar ist. In diesem Lande, wo im Laufe der Jahrhunderte durch Zuwanderung und Verschmelzung deutsche Neustämme entstanden, hatte das regelmäßig gebaute, planmäßig angelegte Dorf mit einer vermessenen Gewannflur das unregelmäßige slawische Dorf mit der Blockflur verdrängt, der Scharpflug den Hakenpflug. Entwässerungsarbeiten, Deichbauten und Wassermühlen, Glashütten und Eisenhämmer bewiesen einen Stand der Technik, den das Land vorher nicht gekannt hatte. In wohlbemessenen Abständen lagen in dieser agrarischen Landschaft planvoll angelegte Städte mit Mauern und Toren, Marktplatz und Rathaus.
Die Frage, ob die Slawen schon Städte gehabt haben, ehe die Deutschen ins Land kamen – vielfach von ihnen gerufen -, läuft auf einen Streit um das Wort „Stadt“ hinaus. Die Slawen hatten Handelsorte mit periodischen Märkten, die meist im Schutze einer Häuptlingsburg lagen, von Handwerkern und Dienstmannen bewohnt waren und von reisenden Kaufleuten zu den Marktzeiten aufgesucht wurden. Die Stadt im Rechtssinne mit Selbstverwaltung und einer freien, sozial gegliederten Bürgerschaft ist dagegen erst mit der deutschen Besiedlung nach dem Osten gekommen.
Auch die Kunst, Kirchen aus Stein zu errichten, haben die Deutschen in die von ihnen besiedelten Gebiete gebracht. Die ältesten Steinkirchen in dem hier behandelten geographischen Raum entstanden um 1150 in Schlesien, und zwar im Westen längs der Besiedlungsstraßen im Vorlande der Sudeten. Sie waren noch im romanischen Stil erbaut, doch ist wenig von ihnen erhalten geblieben. Dagegen hat die Gotik in Ostdeutschland hervorragende Zeugnisse hinterlassen. Einer sorgfältig arbeitenden kunstgeschichtlichen Einzelforschung ist es gelungen, die landschaftliche Herkunft der verschiedenen Einflüsse festzustellen, die auf den gotischen Kirchenbau einwirkten. Die schlesische Gotik z. B. hat Impulse aus Böhmen, dem Donauraum und Niedersachsen empfangen, wobei jeweils die Tradition der Landschaften überwog, aus denen die Bauherren und Baumeister stammten. Doch traten diese Verschiedenheiten zurück hinter dem einheitlichen Formwillen der kirchlichen Ordnungsmacht. Ein augenfälliger Unterschied bestand nur zwischen den roten Backsteinkirchen der Ostseestädte mit ihren grünen Kupferdächern und Turmspitzen und den Hausteinbauten Schlesiens, aber auch hier gab es Backsteinkirchen und solche, bei denen Ziegel zum Mauerwerk, Hausteine für die Portal- und Fensterwandungen und das Maßwerk verwandt wurden. Von typenbildender Kraft war auch im Osten die – neben der Kirche – zweite Ordnungsmacht des Mittelalters, das Rittertum. Sein baulicher Ausdruck war die Burg. Da der große Strom der deutschen Ostwanderung erst einsetzte, als die Blütezeit des Rittertums zu Ende ging, entstanden Burgen nur im Bereich der frühesten Einwanderung, etwa am Rande der Sudeten. Eine Sonderstellung nahmen die Burgen im Staate des Deutschen Ritterordens ein. In Preußen, das der Orden im Auftrage von Kaiser und Papst, also legitimiert von den höchsten Autoritäten der Christenheit, dem Abendland einfügte, hat der Staat das Volk geschaffen und geprägt. Der Orden lenkte die Einwanderung und Besiedlung, förderte den Landesausbau, setzte das Recht und ordnete den Handel. Er bestimmte auch die Baukunst. Die Burgen, die der Orden baute, waren nicht Geschlechterburgen wie in den Landen westlich der Elbe, sie waren auch nicht beeinflußt von dem Burgenstil der Landschaften, aus denen die Ritter kamen, sondern sie waren Staatsfestungen und Klöster zugleich, Zentren der Verwaltung, einheitlich im Typ wie der Orden selbst und einzig in ihrer Art.

 

Geistige Kultur

Die Kirchen und Burgen Ostdeutschlands waren sichtbare Zeugnisse dafür, daß der deutsche Osten in voller Breite die kulturelle Entwicklung Deutschlands mitmachte und daß die geistigen Bezüge hinüber und herüber gingen, wobei der Osten zugleich eigenständige Formen und Inhalte ausprägte. Entsprechend wurden hier im Osten auch Scholastik und Mystik, Liturgie und Predigt ebenso gepflegt wie in Altdeutschland, und auch die höfische Dichtung fand ihre Freunde und Meister. Viele Herzöge Schlesiens und Pommerns heirateten deutsche Fürstentöchter, die mit ihrem Gefolge dann auch ihrerseits die höfische Kultur ihrer Heimat mitbrachten. Stellvertretend für viele sei hier nur die Heilige Hedwig genannt, die Schutzpatronin Schlesiens, Gattin des Herzogs Heinrich I., Tochter des Herzogs von Andechs und Schwester des Bischofs von Bamberg, Stifterin des Nonnenklosters Trebnitz. Daß zwei aus slawischen Geschlechtern, wenn auch von deutschen Müttern stammende Fürsten, Wizlaw III. von Rügen und Heinrich IV. von Breslau, deutsche Minnelieder dichteten, hat man stets mit Recht als Beweis für die Wirkungskraft der deutschen ritterlichen Kultur gewertet. Auch auf dem Gebiete der mittelalterlichen Dichtkunst nahm der Deutsche Ritterorden eine Sonderstellung ein. Priesterbrüder des Ordens dichteten biblische Stoffe, Heiligenlegenden und Chroniken. Allein auf der Marienburg, der Residenz des Hochmeisters, und auch beim Ordensmarschall auf der Burg Königsberg entfaltete sich im Verkehr mit den adligen Gästen und Kreuzfahrern so etwas wie ein höfischer Glanz, der sich nach außen wandte.

 

Das Bürgertum

Den letzten beiden Jahrhunderten des Mittelalters gab in ganz Deutschland das Bürgertum sein Gesicht. auch im deutschen Osten gestalteten die Bürgerschaften das Bild der Städte. Die bürgerliche Bautätigkeit übertraf jetzt die der Fürsten, Bischöfe und Mönchsorden. Damals wurden gebaut oder ausgebaut die gewaltigen Bürgerkirchen St. Marien zu Danzig und zu Kolberg und die Rathäuser in Thorn und Breslau; die ersten drei ernst und wuchtig, das Breslauer Rathaus dagegen mit einem südländisch anmutenden Schmuck von Steinbildnerei und Farbe. Humanistisch gebildete Stadtschreiber lenkten in diesen Rathäusern neben den patrizischen Bürgermeistern und Ratsherren umsichtig die Politik ihrer Stadt und zeichneten deren Geschichte auf. Zünfte pflegten den Meistersang und das deutsche Lied. Bürgerliche Frömmigkeit verband sich mit sehr weltlicher Festesfreude in Prozessionen, Legendenspielen und Fastnachtsschwänken. Die Ergiebigkeit des Handels, der etwa von Thorn und Danzig nach Polen und Litauen einerseits und nach den Städten an der Ost- und Nordsee, nach Flandern und England andererseits, oder von Breslau, wo die Fugger eine Niederlassung unterhielten, nach Polen und Ungarn betrieben wurde – hinterließ einen Niederschlag in der reichen Ausstattung der Kirchen, Rathäuser und Patrizierwohnungen mit Kunstwerken aller Art, die etwa auf Handelsreisen gekauft, aus Nürnberg, der Hauptstadt des deutschen Gewerbes, eingeführt, oder aber auch in der Stadt selbst hergestellt worden waren, die ihren Bürgern schon seit mehreren Generationen zur Heimat geworden war. Der süddeutsche Holzschnitzer Veit Stoß mit seiner Schule wirkte von Krakau auf Schlesien zurück; Hans Pleidenwurff aus Nürnberg lieferte 1462 den Hochaltar für die Breslauer Elisabethkirche. Eigene formprägende Kraft verband sich auf ostdeutschem Boden mit wesentlichen Anregungen und Einflüssen, die immer wieder bis in die Einzelformen von kirchlicher Plastik, von Schnitzaltären und Buchmalerei zu erkennen sind.

 

Die Neustämme

Die vier deutschen Neustämme des Ostens, Brandenburger, Schlesier, Pommern und Preußen, waren sprachlich zunächst unterschiedlich. Es wurden nicht nur verschiedene deutsche Mundarten, sondern noch lange Zeit überall außer Deutsch andere Sprachen gebraucht: in Pommern Pomoranisch, in Schlesien polnische Dialekte, in Preußen – außer dem erlöschenden Prußisch – auch Masurisch, Litauisch und Kurisch, das Einwanderer aus Masowien, Litauen und Kurland als ihre Muttersprache mitbrachten. Keine Obrigkeit dachte daran, den Einwohnern oder Zuwanderern ihre Muttersprache zu nehmen; vielmehr wurden die Sprachen im kirchlichen Leben gepflegt, bis mit fortschreitender Verschmelzung der Bevölkerung das Deutsche mehr und mehr überwog. Das Zusammengehörigkeitsgefühl, das Alteingesessene und Zugewanderte umschloß, fand auch darin seinen Ausdruck, daß alle Bewohner des Landes sich nun mit demselben Stammesnamen bezeichneten. Sie nannten sich Preußen oder Pommern oder Schlesier, ganz gleich, welcher Herkunft sie waren und welche Umgangssprache sie gebrauchten. Außer in Brandenburg entstand dieses neue Stammes- und Heimatbewußtsein zuerst in Schlesien. Es wurde gefördert durch die Abwendung des Landes von Polen und seinen Anschluß an das in Böhmen regierende deutsche Kaiserhaus; dieser Anschluß hat manchen Kultureinflüssen von Prag her den Weg geöffnet. Freilich wurde die Bildung des neuen Stammesbewußtseins erschwert durch die Zersplitterung Schlesiens in viele Herzogtümer. So hat es sich denn unterhalb der politischen Ebene ausgebildet und der politischen Einigung des Landes vorgearbeitet. Ähnlich war es in Pommern, das erst am Ende des 15. Jahrhunderts nach dem Aussterben von Nebenlinien des Greifenhauses unter dem humanistisch gebildeten und kunstfreudigen Herzog Bogislaw X. politisch geeinigt wurde. In Preußen aber war der Ordensstaat mit seiner vorbildlichen Verwaltung die prägende Kraft, die Staatsbewußtsein und Stammesgefühl entwickelte.

 

Humanismus

In der Zeit des Humanismus entfaltete sich ein ostdeutsches Wesen, das alle die Stämme verband. Es war kein Zufall, daß zur selben Zeit der Herzog Bogislaw von Pommern seinen Landsmann Johann Bugenhagen beauftragte, eine pommersche Geschichte zu schreiben, als auch der Herzog Albrecht von Preußen seinen Hofrat Lucas David an einer preußischen Chronik arbeiten ließ; denn stärker als die politischen und stammlichen Besonderheiten war das, was den ganzen deutschen Osten in sich verband. Aus tausend Einzelfäden entstand eine Bildungseinheit, die jetzt auch nach dem Westen Deutschlands ausstrahlte. Die Ostdeutschen brachten um die Wende vom Mittelalter zur Neuzeit dem ganzen deutschen Volke ihr schönstes Geschenk dar, die neuhochdeutsche Gemeinsprache. Sie ist aus dem Ostmitteldeutschen hervorgegangen. Zwar wurde in den Hansestädten, in Pommern und in Teilen Preußens niederdeutsch gesprochen, aber das Mitteldeutsche war doch, der Herkunft des größten Teiles der Einwanderer entsprechend, die am weitesten verbreitete Sprache Ostdeutschlands. Es war die Sprache der Ordensurkunden und der böhmischen und sächsischen Kanzlei und wurde durch Luthers Bibelübersetzung zur Sprache des ganzen deutschen Volkes. Die deutsche klassische Dichtung und Literatur hat sich dieser Gabe des Ostens bedient. An der großen Geistesbewegung des Humanismus nahm Ostdeutschland einen gebührenden Anteil. Die Studenten aus Schlesien, Pommern und Preußen gingen, soweit sie nicht in Bologna oder Padua studierten, auf die Hohen Schulen nach Prag und Wien, Leipzig, Rostock und Greifswald. Überall lehrten Humanisten, die durch eine gemeinsame Geisteshaltung miteinander verbunden waren, und nicht wenige dieser Humanisten stammten aus Ostdeutschland. Der Professor Otto von Münsterberg, der 1409 mit der Mehrzahl ,der Studenten Prag verließ nnd ,der erste Rektor der Universität Leipzig wurde, war ein Schlesier. Humanisten waren auch viele Fürsten. Sie zogen Gelehrte und Künstler an ihren Hof, bauten Schlösser und sammelten Kunstwerke und wirkten damit anregend auf die Bildung und Kunstübung in ihren Ländern. Humanistische Fürsten gründeten die ersten Universitäten östlich der Oder, Joachim I. von Brandenburg 1506 in Frankfurt, Albrecht von Preußen 1544 in Königsberg. In Schlesien entstand keine Universität, aber ein blühendes Schulwesen. Friedrich II. von Liegnitz stiftete in Goldberg eine Schule, deren bedeutendster Rektor der Lausitzer Valentin Trotzendorf und deren berühmtester Schüler Albrecht von Wallenstein war. Die größeren Städte schufen sich akademische Gymnasien, deren bedeutendste fast den Rang einer Hochschule hatten, so Breslau, Danzig und Elbing. Das 1594 gegründete akademische Gymnasium in Thorn, an dem in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts der preußische Historiker Christoph Hartknoch wirkte, bekam Schüler aus dem ganzen Osten, von Kurland bis Siebenbürgen. Der ermländische Bischof Hosius stiftete 1565 für sein Bistum ein Jesuitenkolleg in Brausberg, das Collegium Hosianum. In Pommern machte sich Johann Bugenhagen, der Reformator der Universität Kopenhagen, um das Schulwesen verdient. Die größte Leistung des ostdeutschen Humanismus war die Tat des Thorner Patriziersohnes und ermländischen Domherrn Nikolaus Kopernikus, der einer schlesischen Familie entstammte. Indem er das heliozentrische Weltbild schuf, hat er der Menschheit den Blick auf die Unendlichkeit Gottes und seiner Schöpfung frei gemacht.

 

Reformation

In der Reformationszeit erblühte besonder auch im deutschen Osten eine neue protestantische Kultur im Bildungs- und Schulwesen, in Kirchenlied und Kantorenmusik, Buchdruck und Sprachforschung. Der Thüringer Johannes Eccard, ein Schüler des Orlando di Lasso in München, begründete als Kapellmeister in Königsberg die sogenannte preußische Tonschule. Die neugegründete Universität zu Königsberg sollte nicht nur eine Schule humanistischer Bildung sein, sondern eine Pflanzstätte des neuen Glaubens, ein Wittenberg des Nordostens. Der erste Rektor, Melanchthons Schwiegersohn Georg Sabinus, war nur einer von vielen „Wittenbergern“ im Osten, und indem er von Frankfurt kam und dorthin wieder zurückging, stellte er auch die Verbindung zwischen den beiden östlichsten deutschen Hochschulen her. Da die Reformation ernst machte mit dem Grundsatz, daß jedermann das Recht habe, Gottes Wort in seiner Muttersprache zu lesen und zu hören, sorgten viele fleißige Köpfe mit frommem Eifer dafür, daß die Bibel und Luthers Schriften in alle Sprachen des Ostens vom Estnischen bis zum Kroatischen übersetzt wurden. In Preußen war man dabei besonders rührig, weil man es erreichen wollte, daß auch die Evangelischen in Litauen und Polen die neue Lehre hören und lesen sollten. Als Professoren und Studenten kamen Litauer und Polen nach Königsberg und gingen als Sendboten des Evangeliums in ihre Heimat zurück. Ebenso nah lag dem Herzog die Aufgabe, seine masurisch und litauisch sprechenden Untertanen mit dem Evangelium in ihrer Sprache vertraut zu machen. Auch dies trug dazu bei, daß sich alle Landeseinwohner auf der neuen geistigen Ebene vereinigten. Bei der Erneuerung des Katholizismus in der Gegenreformation schlossen die Bewohner des Herzogtums Preußen sich im Protestantismus zusammen und von den katholischen Litauern und Polen jenseits der Grenze ab, ohne freilich die Zusammengehörigkeit mit den katholischen deutschen Ermländern zu verlieren.

 

Barock

Danzig und Preußen hatten das Glück, von den Verwüstungen, die der Dreißigjährige Krieg in West- und Mitteldeutschland anrichtete, verschont zu bleiben. Während hier die Städte in Trümmer sanken und die Universitäten verödeten, strömten die Studenten an die Hohen Schulen in Königsberg und Danzig, blühten dort die Künste und Wissenschaften. Simon Dach war in Königsberg das hervorragende Talent des Dichterkreises, der sich hier bildete. Der Domorganist Heinrich Albert aus dem musikfreudigen Thüringen, ein Vetter von Heinrich Schütz, vertonte die Lieder Simon Dachs und Beine beiden Opern. In Danzig arbeitete der große Astronom Johann Hevelius, und Martin Opitz, der Reiniger und Erneuerer der deutschen Sprache und Literatur verließ das unruhige Schlesien, um in Danzig im Kreise ergebener Freunde sich mit sarmatischen Altertümern und altdeutscher Poesie zu beschäftigen. Danzig wurde auch der Ort seines Todes, die Marienkirche seine Grabstätte. Die Seestadt erlebte in dieser Zeit künstlerischer Entfaltung auch einen Zustand wirtschaftlicher Blüte. Im 16. und 17. Jahrhundert gab sich die Stadt das Kleid, das bis zur Gegenwart ihre Schönheit ausgemacht hat. Sie gehörte damals zu den größten deutschen Städten und empfing Zuwachs aus allen deutschen Landen, aus England und Schottland. Die Künstler und Baumeister, die die Stadt mit herrlichen Bauten, hauptsächlich im Stil des Barock, schmückten, kamen aus den Niederlanden. Die Holländer beherrschten mit ihrem Handel damals die ganze Ostsee und haben vieler Orten Spuren ihrer Wirksamkeit hinterlassen, nirgendwo aber schöner und dauerhafter als in Danzigs Grünem Tor vom Amsterdamer Regnier, Altstädtischem Rathaus von Anthony van Obbergen und Turm des Rechtstädtischen Rathauses von Dirks Daniel. Pommern blieb im Luthertum unangefochten. Anders war die Lage in Schlesien. Das Land wurde konfessionell gespalten. Die evangelischen Schlesier blickten nach Norden, nach Brandenburg, Sachsen und Preußen; die katholischen nach Prag und nach Wien. Das war ein stärkerer Zug nach zwei entgegengesetzten Seiten, als er bisher schon Ausdruck der Brückenstellung Schlesiens zwischen Norden und Süden gewesen war. Aber auch er konnte die kulturelle Einheit des Landes nicht mehr zerstören. Diese fand ihren Ausdruck in den Bauten des „Schlesischen Barock“. Im Norden Ostdeutschlands, wo der Protestantismus herrschte und die Besitztümer des Adels sich in mäßigen Grenzen hielten, wurden nur die wenigen in der Zeit der Gegenreformation neu erbauten Kirchen im Barockstil errichtet, und allein die Schlösser Friedrichstein, Dönhoffstädt und Schlobitten in Ostpreußen, Finckenstein in Westpreußen und das Schloß Stargordt der pommerschen Grafen Borcke zeichneten sich durch eine gewisse Aufwendigkeit aus. Der größte Baumeister des Ostens, der in Danzig geborene Andreas Schlüter, hat nicht in seiner ostdeutschen Heimat ein Wirkungsfeld gefunden, sondern im feudalen Warschau und im königlichen Berlin, wo er für Friedrich I. das Schloß zu einem Bauwerk von majestätischer Schlichtheit erweiterte und mit dem Reiterstandbild des Großen Kurfürsten nicht nur das erste erzgegossene Reiterdenkmal auf deutschem Boden, sondern eins der großartigsten Denkmäler überhaupt schuf. Man kann die Schlichtheit und Sparsamkeit des preußischen Barock aber nicht allein aus dem minderen Reichtum der Bauherren erklären; ihr liegt ein anderes Lebensgefühl zugrunde, das mehr der Pflicht und dem Dienst zugewandt war als dem Lebensgenuß, mehr der Regel als dem Überschwang. „Regularität“ und „egale Proportion“ waren schon damals in Preußen in allen Dingen bestimmend, in der Lebensführung, der Kunst, der Musik und der Dichtung. In Schlesien dagegen entfaltete sich die Kunst des Barock zur höchsten Blüte. Hier entstanden die gewaltigen Barockbauten der Klöster Grüssau und Leubus und der Jesuitenkirchen. Was der zum Katholizismus übergetretene Königsberger Michael Willmann in vierzig Jahren in Leubus schuf, war ein Höhepunkt der Barockmalerei überhaupt. Manifestationen von Reichtum und Macht waren auch die Paläste des schlesischen Adels mit ihren Gärten und Parkanlagen im französischen Stil. Von den vielen Schlössern, in denen sich eine hohe gesellschaftliche und künstlerische Kultur entfaltete, seien nur Goschütz, Eckersdorf, Wölfelsdorf, Carlsruhe und Sagan genannt. In ihnen spürte man etwas von der Luft des habsburgisch-kaiserlichen Wien, von dessen Weite der Lebensführung. Wandernde italienische Meister haben damals in Schlesien gebaut, aber auch die Wiener Fischer von Erlach und Lucas Hildebrandt und Ignaz Dientzenhofer aus Prag. Neben ihren Kirchen und Schlössern wirkte die von dem Baumeister Martin Frantz aus Reval nach dem Vorbild der Stockholmer Katharinenkirche gebaute evangelische Gnadenkirche in Hirschberg wie eine nordische Enklave, wie auch das Stadtschloß, das sich Friedrich II. in Breslau bauen ließ, ein schlichteres Barock aufwies als die Aula der Leopoldina.
Im Barock hat Schlesien aber nicht nur einen großartigen Beitrag zur Baukunst, sondern auch einen nicht minder hervorragenden zur Literatur geleistet, und zwar war es von besonderer Bedeutung, daß die schlesische Barockdichtung sowohl aus dem geistigen Boden des Katholizismus wie des Protestantismus erwuchs, ein Beweis dafür, wie tief das gemeinsame Schlesische wurzelte. Bereits in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges hatte der im Jahre 1597 zu Bunzlau geborene Martin Opitz zur Reinheit der Sprache und Dichtkunst aufgerufen; 1624 erschien sein „Büchlein von der deutschen Poeterei“. Ein anderer Schlesier, Friedrich von Logau (geb. 1604, gest. 1655 in Liegnitz), führte durch seine über 4000 „Sinngedichte“ das klassische Epigramm in die deutsche Literatur ein. Besonders die geistliche Dichtung erblühte in Schlesien. Der Arzt und Priester Johann Scheffler, der 1624 in Breslau geboren wurde, formte das Gedankengut ,der großen Mystiker wie Meister Eckehart und Giordano Bruno in seinen „Geistlichen Hirtenliedern“ und im „Cherubinischen Wandersmann“, Gedichtsammlungen, die er unter dem Namen Angelus Silesius herausgab. Ebenso übte auch der 1575 in einem Dorfe südlich von Görlitz geborene schlesische Mystiker Jakob Böhme in seinen vom Geiste lutherischer Frömmigkeit geprägten religiösen Schriften eine tiefe Wirkung auf seine Zeit aus. Von Opitz ausgehend, entfaltete sich auch die weltliche Dichtung des Barock vor allem in Schesien: Andreas Gryphius (geb. 1616 zu Glogau), Christian Hofmann von Hofmannswaldau (geb. 1617 zu Breslau), Daniel Gaspar von Lohenstein (geb. 1643 in Nimptsch) und Christian Günther (geb. 1695 zu Striegau) vereinen in ihren Werken die ganze Skala vom tiefen, echten Gefühl bis hin zur gekünstelten „Zierlichkeit“ des Rokoko. Wenn in jeder Epoche der deutschen und europäischen Kultur- und Geistesgeschichte der Anteil Ostdeutschlands hervorragt, im Barock ist Schlesien vor allem bestimmend gewesen.

 

Aufklärung

Es war kein Zufall, daß in der nun folgenden Zeit des Rationalismus, in der Epoche der Aufklärung, das Pendel von Schlesien zurückschwang nach dem Norden und Osten, nach Brandenburg, Pommern und Ostpreußen. Allmählich war hier der Staat Preußen entstanden, der schließlich im 18. Jahrhundert auch Schlesien und Westpreußen einbezog. Gleichzeitig trat auf dem Felde des Staatlichen der „aufgeklärte Absolutismus“ in Erscheinung, geprägt von Friedrich dem Großen, der von hervorragenden Zeitgenossen der Philosoph auf dem Königsthron“ genannt wurde. Die unter seiner Regierung verstärkten Bemühungen um die Hebung des Bildungsstandes sollten vor allem auch den nachmaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, John Quincy Adams, begeistern. Tatsächlich gewann in Preußen die Aufklärung ihre besondere Note, wie später der große Philosoph und Lehrer an der Königsberger Albertina, lmmanuel Kant, diese Epoche ihrem Höhepunkt entgegenführte und sie zugleich überwand. Es war der Breslauer Christian Wolff (1679-1754), ein Schüler des großen Leibniz, der in seinem Hauptwerk „Vernünftige Gedanken“ (über Gott, Welt und Seele, Natur und Gesellschaft) den Grund legte für die Aufklärung in Deutschland und von der preußischen Universitätsstadt Halle aus ihr Licht in lehrhaft populären Schriften verbreitete. Fast alle Lehrstühle der Philosophie an den deutschen Universitäten wurden von den Schülern und Anhängern Wolffs besetzt. In der Dichtkunst wurde der im Jahre 1700 zu Juditten bei Königsberg geborene Johann Christoph Gottsched von der Universität Leipzig aus durch seine literarkritischen Veröffentlichungen – vor allem durch seinen „Versuch einer kritischen Dichtkunst der Deutschen“ und durch eine Reihe von Zeitschriften – wahrhaftig zum „Literaturpapst“, zum Organisator der deutschen Dichtung und Diktator des literarischen Geschmacks. Durch zahlreiche Übersetzungen erschlossen er und seine Frau auch die französische Bühnenliteratur für das deutsche Theater. Karl Wilhelm Ramler (1725-1798) aus Kolberg, der spätere Direktor des Berliner Nationaltheaters, befolgte in seinen Dichtungen die Lehren Gottscheds. Ramler, der als Professor am Kadettenhaus in Berlin wirkte, gab auch erstmals die Gedichte seines pommerschen Landsmannes und Freundes Ewald von Kleist heraus, ein Jahr nachdem dieser in der Schlacht von Kunersdorf gefallen war.

 

Klassik

An der Herausbildung der Welt der Klassik, der geistigen Welt Goethes und Schillers, sind drei hervorragende Ostdeutsche beteiligt, deren Namen stets zusammen genannt werden mit denen der beiden Dichterfürsten und die ebenso wie diese nun nicht mehr allein der deutschen, sondern der europäischen Geistesgeschichte angehören: Immanuel Kant, Gotthold Ephraim Lessing und Johann Gottfried Herder.
Die große kritische Leistung Immanuel Kants, der am 22. April 1724 in Königsberg als Sohn eines Riemermeisters geboren wurde und bis zu seinem am 12. Februar 1804 erfolgten Ableben niemals seine ostpreußische Heimat verließ, hat nicht nur auf die ganze philosophische Welt gewirkt, sondern auch der deutschen Klassik den Boden bereitet. Mit seinen drei großen „Kritiken“ – der „Kritik der reinen Vernunft“ (zur Logik und Erkenntnistheorie) 1781, der „Kritik der praktischen Vernunft“ (zur Ethik) 1788 und der „Kritik der Urteilskraft“ (zur Ästhetik) 1790 – hat Kant das geschaffen, was in der Geschichte der Philosophie der „Kritizismus“ oder „Kantischer Idealismus“ genannt wird. Er umriß die Grenzen der Vernunft, indem er auf dem Gebiete der Erkenntnistheorie Raum und Zeit als „Vorstellungen apriori“ charakterisierte und damit die Begrenztheit menschlichen Erkenntnisvermögens aufzeigte. Auf dem Felde der Ethik war es sein Hinweis auf den „guten Willens“, auf „das moralische Gesetz in uns“, der die „kopernikanische Wendung“ bedeutete, indem nun die „Autonomie der Persönlichkeit“, die Freiheit des Menschen, nach sittlichen Maximen zu handeln, etabliert wurde. Und auf dem Gebiete der Ästhetik haben seine tiefschürfenden Gedanken vom Wesen des Schönen die Gedanken und Werke vor allem Schillers nachhaltig beeinflußt. So wurde durch Kant Ostpreußen zum Geburtsland einer Philosophie, welche entscheidend zur Entfaltung der Gesellschaft und Kultur des Abendlandes beitrug. Die aus seiner Ethik gewonnene Vorstellung von den Grundlagen eines gutnachbarlichen Zusammenlebens der Völker und Staaten fand in seiner Schrift „Vom ewigen Frieden“ ihren Niederschlag, in jener Schrift, welche alle die nachmaligen Bemühungen um die Herstellung supranationaler Gemeinschaften letztlich ausgelöst hat. Auch das Preußen der Reformzeit wurde von der Kantischen Ethik, vor allem von seinem „Kategorischen Imperativ der Pflicht“ geprägt. Neben Kant traten in verwandtem Streben die beiden großen Dichter und Denker ostdeutscher Herkunft Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) und Johann Gottfried Herder (1744-1803). Lessing, der in Kamenz im östlichen Sachsen .geboren wurde, verpflanzte nicht nur das bürgerliche Drama. der Engländer nach Deutschland („Miss Sara Sampson“, 1755), sondern schuf mit seinem dramatischen Gedicht „Nathan der Weiße“ (1779) jenes Meisterwerk, in dem Toleranz und Menschenliebe als die höchsten Werte verkündet werden. Lessing, der von 1760 bis 1767 in Breslau und in Berlin wirkte, setzte auch dem Geiste echten Preußentums in seinem Lustspiel „Minna von Barnhelm“ (1767) ein unvergängliches literarisches Denkmal. Sein Einfluß auf das zeitgenössische Theater („Hamburgische Dramaturgie“, 1767-1769) , auf die klassische Kunstauffassung („Laokoon“ 1767) sowie auf Literatur und Dichtkunst („Briefe, die neueste Literatur betreffend“) ist von großer Bedeutung: Lessing hat die Epoche der deutschen Klassik eingeleitet, deren philosophisches Fundament zur gleichen Zeit Immanuel Kant legte. Der dritte ostdeutsche Klassiker der deutschen Literatur, Johann Gottfried Herder, aus Mohrungen in Ostpreußen gebürtig, hat – neben Lessing – dazu beigetragen, daß Shakespeare in Deutschland bekannt wurde. Mit Goethe war er von dessen Straßburger Zeit an verbunden, aber so groß auch sein Einfluß auf die Literatur und Dichtkunst war, weit unmittelbarer wirkten sich – und zwar bis in den politischen Raum hinein – seine Gedanken über die Zusammenhänge von Natur und Geschichte („Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“, 1784-1791) sowie sein Hinweis auf die Volksdichtung („Stimmen der Völker in Liedern“, 1778) aus. Denn nun trat, eben durch Herder veranlaßt, das Volk in Erscheinung, wohingegen Immanuel Kant stets den Menschen – die Menschheit – und das Gemeinwesen – den Staat – im Auge gehabt hatte. Während Kant auf den Kulturpessimismus Rousseaus mit der Aufzählung der „Tugendpflichten“ geantwortet hatte, deren Befolgung aus der dem Menschen innewohnenden sittlichen Kraft heraus möglich ist, wendet Herder den Ruf Rousseaus: „Zurück zur Natur!“ auf die Völker an, in denen er den schöpferischen Urgrund der Geschichte erblickt. Ihm waren die Völker – und mit ihnen deren Sprachen – „Gedanken Gottes“, obwohl das biblische Gleichnis vom Turmbau zu Babel die Aufteilung der Menschheit in verschiedene Sprachgemeinschaften als göttliche Strafe für menschlichen Hochmut deutet. Herders neues Menschheitsideal war nicht die vernunftgemäß und nach dem kategorischen Imperativ handelnde autonome Persönlichkeit, sondern der „gewachsene“ Mensch, dessen Wachstum inmitten einer volklich-sprachlichen „natürlichen“ Besonderheit erfolgt. Herders Ideen führten zur Romantik und zur Volkskunde hinüber. Wenn man die Ursprünge der Völker, ihre Lieder und Sagen, ihre Bräuche und Feste erforschte, stieg man zu den Quellen der Menschheit hinab. Mit humanistisch-weltbürgerlichem Eifer nahmen sich deutsche und slawische Gelehrte der Geschichte gerade der kleinen Völker des Ostens an. Sie entdeckten deren Originalität und verhalfen ihnen zu einem neuen Bewußtsein ihrer selbst. Diese geistige, nur auf das Humane gerichtete Bewegung vollzog sich unterhalb der staatlichen Ebene. Sie gewann aber politische Kraft, als sie sich mit der ganz auf den Staat gerichteten westlichen Nationsidee verband. Indem aus der Forderung auf Erhaltung und Pflege des Volkstums der Anspruch auf einen Nationalstaat wurde, begann ein Zersetzungsprozeß, der die in Jahrhunderten gewachsenen übervölkischen Staatsordnungen aufzulösen drohte.

Romantik

Die Romantik ist eine europäische Geistesbewegung, und sie erfaßte alle deutschen Stämme und Landschaften. Aber wiederum gingen entscheidende Impulse von Ostdeutschland aus. Nicht nur Herder war es, der mit seiner Entdeckung des Wertes alten Sprach- und Kulturgutes das Tor zur Romantik aufstieß, sondern bereits der im Jahre 1730 in Königsberg geborene Dichter und Philosoph Johann Georg Hamann, der Lehrer Herders, hatte die Antwort auf die Frage, welche die Aufklärung nicht beantwortete, in dem gesucht, was er die „Muttersprache des Menschengeschlechts“ nannte, in der Poesie. Hamann wurzelte im Irrationalen, und er wurde ob der schwer verständlichen und geheimnisvollen Sprache seiner Dichtungen der „Magus des Nordens“ genannt. Von ihm führt also über Herder der Weg der deutschen Geistesgeschichte zur „blauen Blume“ der Romantik. An der Schwelle zwischen Klassik und Romantik steht ein Ostdeutscher, in dessen genialischem Wesen und Schaffen sich die beiden Epochen deutscher Literaturgeschichte begegnen: Heinrich von Kleist, der 1777 in Frankfurt (Oder) geborene Ostbrandenburger. Entstammt Kleists „Penthesilea“ trotz aller Leidenschaftlichkeit der Sprache noch dem klassischen Raum, so gehören vor allem der „Prinz von Homburg“, dann „Das Käthchen von Heilbronn„, „Die Familie Schroffenstein“ und „Die Hermannschlacht“ sowie eine Reihe seiner Novellen und Erzählungen bereits der Romantik an. In der Mitte steht Kleists berühmtes Lustspiel „Der zerbrochene Krug“, in dem sich bäuerlich Urwüchsiges vereint mit einer dramatischen Linienführung von klassischer Klarheit und Strenge. Sodann aber entfaltete die ostdeutsche Romantik sich in zweifacher Weise. Im Norden, in Ostpreußen, drängt mit Ernst Theodor Amadeus Hoffmann und mit Zacharias Werner das Skurrile, Zauberische und Schicksalhafte zur Gestaltung, während im Südosten, in Schlesien, das geheimnisvolle Verwobensein von Mensch und Landschaft einen Ausdruck verträumter Heiterkeit findet. Den „Gespenster-Hoffmann“ hat man den ostpreußischen Dichter genannt, der 1776 zu Königsberg geboren wurde und dessen Werk sowohl auf dem Gebiete der Musik wie auch auf dem der Dichtkunst Anregung bot weit über Deutschlands Grenzen hinaus. Victor Hugo, Edgar Allan Poe, ja auch Nikolai Gogol wurden E. T. A. Hoffmanns Nachfolger in der Kunst, das Unheimliche darzustellen, das zwischen Tag und Traum webt und das zugleich symbolhaft ist für die Fragwürdigkeit des Daseins, was in dem gespenstischen Doppelgänger des Bruders Medardus in den „Elixieren des Teufels“, im Kapellmeister Kreisler in den „Serapionsbrüdern“, im Märchen vom „Goldenen Topf“ und auch in den „Lebensansichten des Katers Murr“ seinen Ausdruck fand und das dann Jacques Offenbach in seiner weltberühmten Oper „Hoffmanns Erzählungen“ musikalisch gestaltete. Es ist die Begegnung des suchenden Menschen mit den Zaubermächten, die das beständige Thema bildet, aber während Hoffmann niemals einen Zweifel daran läßt, daß diese Mächte letztlich Geist vom menschlichen Geiste sind, Spiegelungen nach außen, werden sie bei seinem ostpreußischen Landsmann Zacharias Werner (geb. 1768 zu Königsberg) zu übernatürlichen Gewalten, denen niemand widerstehen kann. In Werners Drama „Die Söhne des Tals“, in dem der Untergang des Templerordens behandelt wird, und in seinem Drama „Der 24. Februar“ stehen die handelnden Personen unter blindem Verhängnis, dem entrinnen zu wollen Vermessenheit ist. Neben dieser düsteren Romantik des Nordens erwuchs die zarte Blume spätromantischer Dichtung unter dem heiteren Himmel Schlesiens, als Joseph Freiherr von Eichendorff, geb. 1788 auf Schloß Lubowitz bei Ratibor, sein Büchlein „Aus dem Leben eines Taugenichts“ schreibt. Hier rauschen die Bächlein zu Tal, und die gütigen Feen lenken die Schritte des Wanderers aus lauschigen Sommernächten in besonnte Gefilde. Der dramatischen Wucht des Nordens steht hier die volksliedhafte Lyrik gegenüber. Eichendorff wurde zum Sänger des deutschen Waldes, und von seinem Naturempfinden her, das sich mit dem Märchenhaften verwob, ergab sich auch die Einfügung des Menschen und seiner Werke in die Landswaft. Die Marienburg an der Nogat und der Kölner Dom am Rhein sind ihm Zeichen dieser Verbundenheit und so mahnt er zur Pflege und zum Ausbau der Baudenkmäler, die zugleich das Fortwirken der gestalteten Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft bedeuten. Weniger im Osten als in Mitteldeutschland mündet die Romantik ein in Musik und bildende Kunst; wie überhaupt nicht nur Einklang zwischen Landschaft und gefühlvollem Empfinden der Seele, sondern Harmonie von Poesie, Musik und Malerei beständiges Ziel der Epoche bleiben. Dies prägt sich aus in E. T. A. Hoffmanns Oper „Undine“; es wirkt weiter über die romantischen Werke eines Carl Maria von Weber, der einige Jahre Theaterkapellmeister in Breslau war, bis hin zum Gesamtkunstwerk Richard Wagners. Beide aber waren verbunden in eigentümlicher Weise mit der Stadt, in der sich ost- und mitteldeutsches Wesen von  jeher begegnet: mit Dresden, der Kunstmetropole der Könige von Sachsen. Dresden war auch der Vorort romantischer bildender Kunst. An der Dresdener Akademie wirkten die aus Pommern stammenden Maler Caspar David Friedrich (1814-1840) und Philipp Otto Runge (1777-1810). Schuf der erstere in seinen Werken „Meeresküste im Mondschein“, „Riesengebirgslandschaft“ und „Kreuz im Gebirge“ das Bild ostdeutscher Heimat im Gestimmtsein auf das All, so war Runges Schaffen auf das Portrait (Selbstbildnis, die Eltern des Künstlers) und auf Symbolbilder (Tageszeiten) gerichtet, wobei die Gestaltung romantische Deutung und Anmut des Biedermeier vereinte. Eine so umfassende und vielgegliederte geistige Bewegung wie die Romantik mußte auch ihre Auswirkung auf die Philosophie haben, und hier war es wiederum ein Ostdeutscher, der gleichermaßen die Lebensanschauung der Romantik auf die Grundlagen philosophischer Welterkenntnis stellte, wie vorher Kant die Gedankenwelt der Klassik mitgestaltet hatte. Der bedeutendste Philosoph der Nachkantischen Epoche ist Arthur Schopenhauer, der – am 22.2.1788 in Danzig geboren – nun das, was Kant als „Ding an sich“ bezeichnet hatte, als den „Willen“ deutete, der alles ausmache und letztlich das sei, was die Welt im Innersten durchdringe und zusammenhalte. In seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ entwickelt er ebenso wie in seinen „Parerga und Paralipomena“ diesen „einzigen Gedanken“, dessen Bedeutung erst dann voll erkennbar wird, wenn man statt Wille das Wort Energie setzt. Mehr als ein Jahrhundert vor dem Beginn des Atomzeitalters nimmt Schopenhauer die Grunderkenntnis vorweg, daß es „an sich“ keine Materie gibt, sondern daß sie nichts ist als geballte Energie, während das, was wir sehen, nur die äußere Erscheinung zahlloser Objekte ist. Auf den Menschen selbst angewandt, führt ihn diese Erkenntnis zur Deutung des Lebens als ständiger und leidvoller Auswirkung des Willens, den es zu uberwinden gilt, um das Leid zu besiegen. Auf diesem Wege ist Schopenhauer zum Philosophen des Mitleids geworden, denn wenn sich der allgewaltige Wille in allen Wesen manifestiert, so ist jedes andere menschliche Wesen „ich selbst“. Wer dieses aber erkennt und danach handelt, durchbricht das „principium individuationis“ und gelangt zur sittlichen Vollkommenheit. Vielen ist Schopenhauer Anreger und Wegweiser geworden, besonders Wagner und Nietzsche, wie eben in den Gestalten und Formen romantischer Kunst und Dichtung dasselbe zum Ausdruck kommt, was Schopenhauer verkündete: Alles Werden und Sein ist nur von außen betrachtet vielgestaltig und im Gegen- und Nebeneinander individualisiert, während in der Tiefe der Quellstrom des Willens alles verbindet. Die gleiche Anschauung klingt an im Lebenswerk des größten evangelischen Theologen und Religionsphilosophen des 19. Jahrhunderts, des Schlesiers Friedrich Schleiermacher (1768-1834), dessen „Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ und dessen „Glaubenslehre“ auf dem „frommen Selbstbewußtsein“ fundieren, aus dem alle Gotteserkenntnis entspringt. Ein Vergleich zwischen der Lehre Schopenhauers und der Schleiermachers ergibt, daß diese Frömmigkeit  Schleiermachers nichts anderes ist als das, was der Philosoph die „Verneinung des Willens“, die Überwindung des „principium individuationis“ nannte.

Realismus und Naturalismus

Mit dem großen Beitrag zur Klassik und Romantik war die geistige Kraft des deutschen Ostens keineswegs erschöpft. Aus seinem Mutterboden erwuchsen weiter Persönlichkeiten, die nun auch dem heraufziehenden Zeitalter des bürgerlichen Realismus, der Technik und des Naturalismus Gehalt und Form gegeben haben. Schlesier und Ostpreußen sind es, die wiederum den Gang der deutschen Geistesgeschichte mitbestimmten. Willibald Alexis (geb. 1798 zu Breslau) und Gustav Freytag (geb. 1816 zu Kreuzburg in Oberschlesien) nahmen ihre Stoffe aus der brandenburgisch-preußischen oder aus der gesamten deutschen Geschichte. Dies mochte noch von der Romantik herrühren, welche zur Rückbesinnung auf die Geschichte des eigenen Landes bis hin in die Frühzeit aufgerufen hatte, und diesem Rufe folgte Alexis in seinen Romanen „Cabanis“ und: „Die Hosen des Herrn von Bredow“, Freytag in seinen Werken „Die Ahnen“ und „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“. Aber des letzteren „Soll und Haben“, das die Geschichte eines schlesischen Handelshauses beschreibt, steht bereits mitten im weiten Bereiche des bürgerlichen Realismus und wurzelt in der Landesgeschichte wie im Südwesten die Dichtungen Gottfried Kellers und im Norden die Novellen Theodor Storms. Als die stürmische Industrialisierung die soziale Frage aufwarf, die nicht allein mit einfühlender Betrachtung zu lösen war, sondern Anteilnahme an den widrigen und häßlichen Seiten des Daseins erheischte, entstand der Naturalismus, der sich die soziale Anklage zur Aufgabe setzte und dieserhalb die minutiöse Nachzeichnung des sozialen Elends. Ein Ostpreuße, der 1863 in Rastenburg geborene Arno Holz, war der Schöpfer der naturalistischen Theorie, sofern sie die Dichtung in freien Rhythmen betraf. In seinem „Buch der Zeit“ und in den „Dafnis-Liedern“ wandte er das an, was er in seinen Schriften „Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze“ sowie in „Revolution der Lyrik“ entwickelt hatte. Von seinem Versepos „Phantasus“ führte sein Weg zum Drama. „Familie Selicke“ und „Traumulus“ sind das Ergebnis gemeinsamen Wirkens mit anderen, die zur „Moderne“ strebten. Der hervorragendste Vertreter des naturalistischen Dramas ist der 1862 im schlesischen Obersalzbrunn geborene Gerhart Hauptmann. Seine Schauspiele „Vor Sonnenaufgang“, „Die Weber“, „Hanneles Himmelfahrt“, „Fuhrmann Henschel“ sind Beispiele jener Grundrichtung der Zeit, die auf „naturgetreue“ Darstellungen des „Wirklichen“ drängt, auch wenn dieses in animalischer Abhängigkeit von sozialen Faktoren und eigenen Leidenschaften in Erscheinung tritt. Im „Florian Geyer“ wird diese Sozialkritik Hauptmanns an einer Gestalt der Zeit der Bauernkriege bildhaft, während seine Erzählungen „Der Apostel“, „Bahnwärter Thiel“ und ebenso „Emanuel Quint“ wie die Robinsonade „Die Insel der großen Mutter“ nun das psychologisierende Moment hinzubringen. Allmählich erfolgte die Lösung von der naturalistischen Theorie in der „Versunkenen Glocke“ und im Märchenspiel „Und Pippa tanzt“, bis der Dichter in seinen Alterswerken – besonders in der „Atriden-Tetralogie“ und im Großen Traum“ – nun Klassisches und Romantisches vereint in der Schau verklärter Weisheit.
Oftmals nahm Gerhart Hauptmann aus Geschichte, Land und Leuten seiner Heimat Schlesien das Milieu und die Gestalten seiner Dichtungen, ebenso wie sein älterer, 1858 geborener Bruder Carl, der gleichermaßen als Naturalist begann, um sich jedoch alsbald dem Expressionismus zuzuwenden. Von Carl Hauptmanns Schaffen haben vor allem seine „Miniaturen“, sein autobiographischer Roman „Einhart der Lächler“, sein herrliches „Rübezahlbuch“ und sein gedankentiefes „Tagebuch“ Bestand gehabt, die er alle in reiferen Jahren verfaßte. Lange Zeit stand sein Name im Schatten des berühmten Bruders, aber eben deshalb, weil er echtes schlesisches Wesen verkörperte, errang auch Carl Hauptmann einen geachteten Platz im Pantheon der deutschen Dichtkunst.
Die Brüder Hauptmann stehen somit zwar in ihren Anfängen mitten im Naturalismus, den auch ihr Landsmann Otto Julius Bierbaum in seinen Zeitschriften „Pan“ und „Die Insel“ sowie in Beinen Romanen „Stilpe“ und „Prinz Kuckuck“ vertrat, aber sie sind zugleich in weiten Bereichen ihres Schaffens Heimatdichter Schlesiens. Dieses aber vereint sie mit anderen, die ebenfalls im Boden der ostdeutschen Heimat wurzelten und von hier aus hinauswirkten in die deutsche Literatur: mit dem Ostpreußen Hermann Sudermann, der 1857 in Matziken bei Heydekrug geboren wurde und dessen „Litauische Geschichten“ ebenso wie sein  Roman „Frau Sorge“ und seine Erzählung „Der Katzensteg“ die ostpreußische Landschaft entstehen lassen, während sein Drama „Die Ehre“ (1889) ihm den Weg zu literarischem Ruhm eröffnete, mit dem Westpreußen Max Halbe (geb. 1865 in Guetland bei Danzig), dessen Drama „Jugend“ einer ganzen Kunst- und Literaturrichtung den Namen gab und dessen Schauspiele „Mutter Erde“ und „Der Strom“ in der heimatlichen Landschaft der Weichselniederung spielen, und mit dem schlesischem Landsmann Paul Keller (1873-1932), der durch seine Familienzeitschrift „Die Bergstadt“ und durch seine Romane „Waldwinter“, „Die Heimat“ und „Ferien vom Ich“ zu einem Volkserzähler wurde. Zwischen Heimat, Deutschland und Welt fließt der beständige Strom ostdeutscher Erzählkunst: Der 1831 in Insterburg geborene Ernst Wichert steht mit seinen historischen Romanen aus der Ordenszeit und der preußischen Geschichte („Heinrich von Plauen“, „Der große Kurfürst“) neben Theodor Fontane (1819-1898), der in seinen „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ in schlichter klarer Sprache der märkischen Heimat ein unvergängliches Denkmal setzte, wie seine RomaneEffi Briest“, „Irrungen, Wirrungen“ und „Frau Jenny Treibel“ zugleich das Wesen der Zeit in feinsinnig gezeichneten Charakteren erkennen lassen. So umfassend ist der ostdeutsche Beitrag zur Heimatdichtung, daß nun auch die Landschaft Westdeutschlands vom Osten her beleuchtet wird: Der Schlesier Hermann Stehr war es, der in seiner Roman-Trilogie „Drei Nächte“, „Heiligenhof“ und „Peter Brindeisener“ das westfälische Land lebendig werden läßt, wie der gebürtige Westpreuße Hermann Löns zum Sänger der Lüneburger Heide wird und auch in seinen Romanen „Der Werwolf“ und „Das zweite Gesicht“ landschaftsgebunden bleibt. Der Weg führt in die Gegenwart zu den großen Ostpreußen, die zu Kündern und Deutern des deutschen Ostens wurden: zu Ernst Wiechert, dessen Romane und Novellen „Die Jerominskinder“, „Die Majorin“, „Die Magd des Jürgen Doskocil“, „Der Totenwald“, „Missa sine nomine“ und „Wälder und Menschen“ der zeitgenössischen europäischen Literatur angehören; zur großen ostpreußischen Dichterin Agnes Miegel, deren Worte den Vertriebenen Trost und Mahnung zugleich sind, und zu Alfred Brust, der das Ostpreußenlied schuf, in dem die Heimatliebe zum „Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen“ ergreifenden Ausdruck fand.
Von den Anfängen der deutschen, ja der europäischen Literaturgeschichte bis zur Gegenwart gibt es keine Epoche geistiger Entfaltung, an der nicht die Dichter und Denker des deutschen Ostens entscheidenden Anteil hatten. Im Osten entsprangen Quellen, die den Fluß der Geistesgeschichte speisten, ja ihn zuweilen davor bewahrten, zum Rinnsal zu werden. Dieser ostdeutsche Beitrag erfolgte in mannigfacher geistiger Begegnung mit Mittel- und Westdeutschland, wie auch der Austausch der Gedanken und Kunstformen nicht nur von West nach Ost, sondern gleichermaßen von Ost nach West vor sich ging. Im Zentrum aber stand die Hauptstadt Berlin, in der Kunst und Wissenschaft erblühten und wo die Vermittlung erfolgte zwischen dem Osten und dem Westen, dem Norden und dem Süden des ganzen Deutschlands und Europas.

Berlin

Berlin war selbst ein Stück des Ostens, seine Summe und sein Spiegel. Hier haben viele der bedeutendsten Geister des Ostens ihre besten Werke geschaffen, und dies gilt nicht nur für Dichtung und Philosophie, sondern auch für die bildende Kunst und für alle Wissenschaften. In der Baukunst wuchsen Berlin vor allem aus dem schlesischen Stamm von jeher hervorragende Kräfte zu. Die Zeit der Aufklärung fand ihren besonderen Ausdruck in dem Rokoko-Schloß Sanssouci bei Potsdam, das der Schlesier Georg von Knobelsdorff im Zusammenwirken mit Friedrich dem Großen erbaute, wie er auch das Berliner Opernhaus schuf. Der Pommer David Gilly, der einer Hugenottenfamilie entstammte, und sein genialer Sohn Friedrich sowie dessen Schüler, der Brandenburger Friedrich Schinkel, schufen in Berlin den Stil des preußischen Klassizismus, der fast ganz von ostdeutschen Kräften getragen war. Wie die Gillys waren auch die beiden Schlesier Johann Gotthard Langhans und sein Sohn Karl Ferdinand preußische Baubeamte. Der Vater baute das Hatzfeldsche Palais in Breslau und das Brandenburger Tor in Berlin, für das der Berliner Johann Gottfried Schadow die Quadriga schuf. Karl Ferdinand Langhans ist der Schöpfer des Palais Kaiser Wilhelms I. und leitete den Wiederaufbau des von einem Brande zerstörten Berliner Opernhauses. Stellte Pommern im 19. Jahrhundert mit Franz Kugler (1808-1858), dem Verfasser der „Geschichte der Baukunst“ und Herausgeber des „Handbuchs der Kunstgeschichte“, den maßgebenden Mann für ,die Kunstpflege des preußischen Staates – er schuf auch zusammen mit dem Schlesier Adolf Menzel (1815-1905) die bekannte „Geschichte Friedrichs des Großen“ -, so sandte im 20. Jahrhundert Ostpreußen zwei bildende Künstler von großer Ausdruckskraft nach Berlin, Lovis Corinth und Käthe Kollwitz. Und von Berlin aus ging Hans Pölzig nach Breslau, um dort das Amt des Direktor’s der Kunstakademie zu übernehmen, wie er auch die Ausstellungshallen in der schlesischen Hauptstadt gestaltete, während der aus Stettin stammende Stadtbaurat Max Berg die Jahrhunderthalle errichtete, welche die Kriegs- und Nachkriegszeit überdauert hat. Es war naheliegend, daß Berlin vielen ostdeutschen Dichtern, Künstlern und Gelehrten zur Stätte ihres Wirkens wurde, daß sie in der Hauptstadt Deutschlands die Stufenleiter ihres Ruhmes erklommen. In Berlin lebten lange Jahre Gerhart Hauptmann, Arno Holz, Max Halbe und Sudermann, hier war der Breslauer Karl von Holtei Theaterdirektor. Nach Berlin kamen auch die berühmten Ärzte Rudolf Virchow und Carl Ludwig Schleich, während der dritte aus dieser Reihe berühmter Mediziner pommerscher Herkunft, Theodor Billroth, in Wien seinen Ruhm begründete. In Berlin wirkten auch berühmte Rechtslehrer des Ostens wie Otto Stobbe aus Königsberg, Otto von Gierke aus Stettin und Richard Schröter aus Ostpommern.   Der Pommer Heinrich von Stephan, der Schöpfer der deutschen Reichspost, gründete von Berlin aus den Weltpostverein.

Austausch zwischen Ost und West

Von den vielen Ostdeutschen, die Entscheidendes leisteten auf dem Gebiete der Wirtschaft und Technik und im Bereiche der allgemeinen Wissenschaften, können hier nur wenige genannt werden: der Schlesier Paul Ehrlich, der in Frankfurt das Salvarsan entwickelte, der Ostpreuße Emil von Behring, der in Marburg das Diphtherieserum entdeckte, der schlesische Freiherr Ferdinand von Richthofen, der Geograph Chinas, der Pommer Anton Dohrn, der Schöpfer der weltberühmten zoologischen Station in Neapel. Auf technisch-wirtschaftlichem Gebiet Ferdinand Schimau, der Begründer der nach ihm benannten Werften und Maschinenfabriken in Elbing und Danzig, und die Schlesier Wilhelm Albern und Gottlob Dierig, die Schöpfer der Textilindustrie in Waldenburg und Langenbielau, nicht zu vergessen der Schöpfer der Zuckerfabriken und Erfinder des Rübenzuckers überhaupt, Karl Achard. auch der berühmten Pioniere der Luft- und Raumfahrt sei gedacht: des Pommern Otto Lilienthal und des Westpreußen Wernher von Braun, der seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den Vereinigten Staaten tätig ist. Aber auch der Westen Deutschlands und Europas entsandte immer wieder hervorragende Gelehrte, Künstler, Techniker und Verwaltungsbeamte nach Ostdeutschland. Die meisten von ihnen wurden vom Osten gewonnen, empfanden sich selbst als Ostdeutsche und blieben ihrer Wahlheimat in steter Treue verbunden, wobei die gestaltende und prägende Kraft des Preußentums sich an ihnen erwies. Sie trugen zu ihrem Teil dazu bei, daß das geistige Leben in Ostdeutschland eine Breite und Fülle gewann, die jeden Vergleich mit einer anderen europäischen Kulturlandschaft aushalten konnte. Die beiden Universitäten Königsberg und Breslau, die Technischen Hochschulen von Danzig und Breslau, die Medizinische Akademie in Danzig, die Handelshochschule in Königsberg, 5 kirchliche Anstalten, an ihrer Spitze die Staatliche Akademie in Braunsberg, 6 Hochschulen für Lehrerbildung, 3 Verwaltungsakademien, 9 Volkshochschulen, 114 Landwirtschaftsschulen, 347 Höhere und 217 Mittelschulen sowie über 14000 Volksschulen legten neben zahlreichen Fach- und Werks- und Berufsschulen, 18 großen Bibliotheken und 179 reichhaltigen Volksbüchereien sowie einer stattlichen Reihe von Archiven und Museen Zeugnis ab vom hohen Stand des Bildungswesens in den deutschen Ostgebieten, die im Jahre 1945 fremder Verwaltung unterstellt wurden. Eine unübersehbare Zahl von kulturellen Vereinigungen bildete sich im Laufe der Zeit heraus. Man erforschte die Geschichte der Heimat, ihren Boden, Flora und Fauna, Brauchtum und Sitte, man pflegte Heimatdichtung und Volkskunst, veranstaltete Musikfeste, Kunstausstellungen und wissenschaftliche Kongresse, und alles dieses in dem stolzen Bewußtsein, daß es nicht nur Werte zu hüten galt, die Pflege verdienten, sondern daß Ostdeutschland mit allen Entwicklungen und Strömungen des Geisteslebens von jeher nicht allein Schritt gehalten hatte, sondern oftmals vorangegangen war durch hervorragende Kulturleistung in wahrhaft europäischem Geiste. 
Was der deutsche Osten verloren hat an kulturellen Werten in der Katastrophe von 1945 und unter nachfolgender fremder Verwaltung an Werken der Baukunst, der bildenden Künste überhaupt, an Museumsgut, in Archiven und Bibliotheken, ist so unermeßlich, daß es wohl nie ganz erfaßt werden wird. So kann dieser Überblick über den Beitrag des deutschen Ostens zur deutschen und europäischen Geistes- und Kulturgeschichte nur in ein Empfinden tiefer Trauer einmünden; denn es waren Werte europäischer Kultur und Geistigkeit, die am Ende einer vielhundertjährigen Tradition durch Schuld und Schicksal zermalmt wurden. Und wenn auch die einstigen Bewohner Ostdeutschlands, die wahren Erben tausendjähriger Kultur, nach der Vertreibung aus der Heimat ihrer Vorväter bemüht sind, zu retten an geistigem Gut, was zu retten ist, so gilt doch angesichts dessen, was sinnlos zerstört wurde, das mahnende und prophetische Wort Gerhart Hauptmanns, das zugleich den tiefen Schmerz des greisen Dichters um die geraubte Heimat erkennen läßt, deren Verlust seine Lebenskraft brach:
„Einen gefährlichen Brandherd legt man, wenn man einen uralt gegebenen Zustand ändert und dafür einen neuen, erkünstelten und erzwungenen, also unnatürlichen, schafft. Ein solcher Zustand wird niemals von Dauer sein können und wird so lange den Frieden Europas gefährden, bis er korrigiert ist.“

 

Literaturauswahl

Es wurden nur einige Titel aufgenommen, die als Anhaltspunkte für eine erste Übersicht und Orientierung dienen sollen.
Andreae, Friedrich: „Geistesleben und Dichtung des deutschen Ostens“. in: „Der deutsche Osten. Seine Geschichte, sein Wesen und seine Aufgabe“. Hrsg. von Karl C. Thalheim und A. HiIlen Ziegfeld, Berlin 1936, S.485-530.
Andreae, Friedrich: „Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau“. in: „Das akademische Deutschland“, Berlin 1930, Bd. I, S.97-110.
Birke, Ernst: „Herder und die Slawen“. in: „Schicksalswege deutscher Vergangenheit“, Düsseldorf 1950, S.81-102.
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Funk, Philipp: „Staatliche Akademie Braunsberg i. Ostpreußen“, in: „Das akademische Deutschland“, Berlin 1930, S.677-682.
Gehrmann, Karlheinz: Vom Geist des deutschen Ostens“. in: „Deutsche Heimat ohne Deutsche“, Hrsg. von Lutz Mackensen, Braunschweig 1951, S.129-157.
Grundmann, Günther: „Die abendländische Stellung der bildenden Kunst des deutschen Ostens“. in: „Der deutsche Osten und das Abendland“, München 1953, S.67-83.
Guhlke, Max: „Pommersche Literaturgeschichte“. Stettin 1912.
Heckel, Hans: „Geschichte der deutschen Literatur in Schlesien“. 1. Bd.: „Von den Anfängen bis zum Ausgange des Barocks“. Breslau 1929 (Einzelschriften zur schles. Gesch. 2. Bd.).
Helm, Karl, und Walther Ziesemer: „Die Literatur des Deutschen Ritterordens“. Gießen 1951 (Gießener Beiträge zur dt. Philologie. 94).
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Nadler, Josef: „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften“. Regensburg Bd.2/1913, 3/1918, 4/1928.
Nadolny, Erwin: „Norddeutsche Backsteingotik“. Kitzingen/Main 1953 (Schriftenreihe d. Göttinger Arbeitskreises, 39).
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Ulbrich, Anton: „Kunstgeschichte Ostpreußens von der Ordenszeit bis zur Gegenwart“. Königsberg 1932.
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2 Antworten zu Der Beitrag Ostdeutschlands zur deutschen und europäischen Geistes- und Kulturgeschichte.

  1. ariald schreibt:

    Ein hochinteressanter Aufsatz! Gut daß er sich im Netz findet, viele wichtige Werke und Schriften modern leider in dunklen Ecken vor sich hin. Was einmal im Netz ist, kann über Suchmaschinen gefunden werden!

  2. Onkel Peter schreibt:

    Finde ich ebenfalls! Nur diese Sache mit den sog. Slawen, werd bei Gelegenheit dazu etwas heraussuchen.

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