Weihnachtliches aus dem deutschen Osten

Weihnachtsgeschichten
In einem Haus begegnen sich vier Vertriebenen-Schicksale: in der Gestalt einer Frau aus dem Egerland, einer anderen aus Schlesien, eines Mannes aus Ostpreußen und eines weiteren aus dem Erzgebirge. Bislang gingen sie aneinander vorbei, die Stunde der Heiligen Nacht aber läßt die Verlorenen zusammenfinden.

Lindenbaum1 

Lindenbaum2

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DER SCHERBEN
von Emil Merker
 Die Freunde hatten sich jahrelang nicht gesehen; was für Jahre! Daß man nun wieder, wie einst in den böhmischen Bergen, auf Bretteln über glitzernden Schnee dahinrauschte, erschien wie ein Wunder. Kriegsgefangenschaft in Rußland, Vertreibung der Familie aus der Heimat, verzweifeltes Suchen, bis man sie fand. Obdachlos, existenzlos. „Ja, vieles ging in Scherben!“ „Aber wir nicht. Ein bißchen lädiert, wohl, das sind wir; aber nicht zerbrochen. Sogar schon wieder“, mit leisem Lächeln wurde es gesagt, „in Amt und Würden wie einst.“
„Ja, weiß Gott, Georg“ – der Ankömmling, von dem Freund als Weihnachtsgast in sein neueingerichtetes Heim eingeladen und eben an der kleinen Bahnstation begrüßt, hielt an und betrachtete sich, auf seinen Skistock gestützt, den Gefährten —: „weiß Gott, Georg, abgesehen von deinen grauen Haaren bist du eher jünger geworden als älter. Und dabei hast du weit Schlimmeres durchgemacht als ich. Siehst aus wie daheim!“
„Ich bin daheim. Ich habe gelernt – das haben in den letzten Jahren so viele ausgesprochen, daß es fast ein Gemeinplatz ist – die Heimat überallhin mitzunehmen; in mir. Und hat man sie in sich, findet man sie auch bald um sich.“
Mit luftgeröteten Wangen kamen beide an dem in der Tiefe eines weißverschneiten Gartens gelegenen Vorstadthaus an. Der Gast schnupperte, als man in den Vorraum getreten: „Weihnachtliche Düfte! Striezel und Apfelstrudel, wenn mich meine in derlei Dingen zuverlässige Nase nicht täuscht.“
„Nein, sie täuscht Sie nicht!“ Die Frau war aus der Küche getreten und begrüßte den Gast: „Willkommen, lieber Freund! Etwas enger werden Sie es bei uns finden als ehedem, aber sonst, so will ich gern hoffen, noch ebenso gemütlich.“ Sie hatte nicht zuviel verheißen. Der Baum, um den man am Abend saß, die alten Lieder singend, war vielleicht etwas kleiner, aber die Lichter darauf, wenn auch nicht zu zahlreich, glänzten in mystischer Feierlichkeit wie einst.
Auch ein paar Lamettafäden fehlten nicht; nur daß sie etwas grau und erblindet waren. „Je grauer und erblindeter, um so besser“ nickte die Hausfrau. „Mögen sie nie, nie durch neue ersetzt werden!“
Auf den fragenden Blick des Gastes erklärte sie: „Ich habe sie an dem Morgen, da dort, wo am Abend noch unser Haus stand, ein Trümmerhaufen war, vom Grase aufgelesen. Sie wurden vom Himmel gestreut, doch nicht von Engelshänden. Von teuflischen Höllenmaschinen.“
„Und was ist das?“
Der Hausherr lächelte: „Ja, ein etwas seltsamer Christbaumschmuck, nicht wahr? Dennoch unser kostbarster. Ein Scherben, ja. Ein Flaschenscherben. In der Flasche war Schnaps.“
Er sah auf das mit einem Bindfaden befestigte, im warmen Anhauch der brennenden Kerzen glitzernd sich drehende Glasstück. „Wurde Christbaumschmuck, nachdem die Flasche an der Wand zersplittert war, und ist es seither Jahr für Jahr. Und hat so, ein Vorbild für uns alle, seine ursprünglich unheilige Natur wohl längst gewandelt.“
Und er berichtete: „Es war in unserem sibirischen Gefangenenlager die erste Weihnacht. Wir hatten uns heimlich einen Kümmerling von Bäumchen zu verschaffen gewußt, auch seit Monaten ein paar Lichtstümpfchen dafür gespart, und standen nun darum und sangen mit vorsichtig gedämpften Stimmen unsere Lieder. Da riß der betrunkene Wachtposten die Tür auf, sah unsere Katakombenfrömmigkeit und warf die Wodkaflasche, wohl deswegen besonders ergrimmt, weil sie leer war, gegen unser Wahrzeichen mit dem kindergläubigen Geflimmer seiner Kerzen. Er traf nicht und torkelte mit einem Fluch wieder hinaus. Die im Luftzug ängstlich flackernden Flämmchen beruhigten sich wieder; und da geschah es. Einer bückte sich, las einen Scherben auf, kramte aus seiner Tasche ein Stück Bindfaden und befestigte es schweigend an einem Zweig. Und wie er taten die anderen, ich auch. Nachdem die Kerzen niedergebrannt waren, nahm jeder seinen Scherben wieder ab und verwahrte sich ihn sorgsam wie ein Kleinod.“
Der Gast nickte: „Ein schweres Schicksal, hat man es bestanden, macht reicher. Vielleicht ist dies sein Sinn. Oder wenigstens unsere Aufgabe, ihm diesen Sinn zu geben.“

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DIE UNHEILIGEN KÖNIGE
 von Gerold Effert
Wind pfiff um die Baracke, eisiger Winterwind; er fegte von Osten her, seit vielen Tagen schon, wirbelte den Schnee auf und strich eisig durch die Ritzen der Fenster herein. Selbst durch die abgeschabten Decken blies er, die vor den bereiften Scheiben hingen, und die fauchenden Kanonenöfen kämpften in den Räumen vergeblich gegen die immer neu hereindringende Kälte an. Zudem war das Holz knapp; Kohlen waren in jenem Elendsjahr kaum zu beschaffen, und der Winter mochte noch lange dauern, bis Ostern vielleicht, und jetzt war erst Weihnachten. Trübe Lichter brannten in den einzelnen Stuben, und die Familien saßen um den Ofen, jede für sich. Verbittert waren die meisten Menschen, viele dachten wohl an den Besitz zurück, aus dem sie vertrieben worden waren, an die großen Bauernhöfe und engen Mietswohnungen, an die Bauden oben im Gebirge und an stattliche Villen. Sie alle waren in diese Baracke eingewiesen worden und warteten, bis sie ins Lager gebracht und fortgeschafft wurden, in Güterwagen über die Grenze. Voller Sorgen waren die meisten, weil sie nicht wußten, wie sie für die nächsten Tage das Notwendigste beschaffen sollten, einen Laib Brot oder nur eine Tüte Kartoffeln.
Auch Frau Rubner saß vor dem Ofen, legte ein Scheit von dem Holz zu, das bald verheizt sein mußte, und dachte an ihren Mann; verschollen war er, vermißt in Rußland, und vielleicht kehrte er nie wieder zurück. Ihre Jungen aber verstanden ihre Sorgen nicht; sie balgten sich lachend, alle drei, und es tat ihnen leid, daß sie nicht heimlich um die Baracke schleichen und Schneebälle an die Fenster werfen durften, die Lausbuben, die Raufbolde, über die alle Bewohner der Baracke schimpften. Jetzt hörten sie draußen jemand durch den Gang tappen, mit schweren, unsicheren Schritten, und dann klopfte es an, und ohne eine Antwort abzuwarten, trat die alte Frau Worm ein, die sich erst gestern bei Frau Rubner über die Streiche der Jungen beschwert hatte. Ein Wort hatte dabei das andere ergeben, und es war draußen auf dem Flur zu einem Zank gekommen, bei dem Frau Worm die Tür ihres Zimmers zornig hinter sich zugeworfen hatte.
Frau Rubner glaubte, daß die Nachbarin sich erneut beklagen wolle; daher wandte sie sich ab und wollte die Alte zur Tür hinausweisen, aber Frau Worm war aufgeregt: Röte war in ihr schwammiges Gesicht getreten, und ihr sonst trüber Blick flackerte jetzt. Sie ging rasch auf die sitzende Frau zu, beugte sich zu ihr hinab und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Jungen hatten aufgehört, sich zu balgen; sie versuchten zu verstehen, was die beiden Frauen miteinander für Heimlichkeiten hatten, vergeblich.
Da stand ihre Mutter auf, strich sich nachdenklich übers Haar und sagte zu den Jungen: „Seid einmal für die nächste Stunde brav, heute wenigstens, am Weihnachtsabend; ich bin bald wieder zurück.“ Und ohne auf ihre Fragen zu warten, faßte sie die alte Frau am Arm und ging mit ihr hinaus.
Ratlos sahen sich die Jungen eine Weile an; dann nickte Peter pfiffig und sagte: „Ich weiß, ich weiß es: drüben die Erna, die Schwiegertochter von der Alten, hat sicher ein Kind bekommen, die Frauen haben gestern auf dem Gang davon geredet, und da haben sie die Mutter geholt.“
„Da müssen wir die drei Könige spielen und ihr was schenken“, meinte Dieter, der Jüngste, und die anderen stimmten dem Plan begeistert zu. Nur Heinz sagte nach einer Weile: „Wir haben doch gar nichts, überhaupt nichts, was wir schenken können“, und er zuckte bedauernd mit den Schultern, während er sich in der dämmrigen Stube umblickte. Endlich kamen sie überein, daß jeder eine Stunde lang nach einem Geschenk suchen solle, und während die beiden jüngeren Brüder den Schrank öffneten und durchwühlten, lief der Älteste zur Tür hinaus, in den frostigen Winterabend.
Noch bevor die Stunde verstrichen war, hatten sie sich wieder zusammengefunden, bereit, ihren Weg anzutreten. Dem Jüngsten hatten die beiden anderen das Gesicht mit Ofenruß verschmiert, damit er wie ein Mohr aussah; freilich wollte sein helles Haar nicht recht zu der schwarz-fleckigen Hautfarbe passen. Einen Kerzenstummel hatte er selbst gefunden, den Rest einer billigen Stearinkerze, und außerdem noch einen Apfel, den er lange aufgehoben hatte, einen Winterapfel mit eingeschrumpfter Lederhaut.
Heinz hielt ein paar Nüsse in den Händen, richtige Walnüsse waren es, und es hatte damit eine besondere Bewandtnis. Die Jungen hatten, nachdem sie im Spätsommer aus ihrem Elternhaus vertrieben worden waren, einen verwegenen Streifzug unternommen: Sie waren, ohne daß ihre Mutter davon wußte, in den eigenen Obstgarten zurückgekehrt, obwohl in ihrem Haus seit Wochen schon einer der neuen Herren wohnte. In den Nußbaum war der Älteste hinaufgestiegen, in seine breitschattige Krone, und hatte die grünschaligen Früchte herabgeschüttelt. Alle Taschen hatten sie sich vollgestopft und waren dann auf Schleichwegen wieder unbemerkt zur Baracke zurückgekehrt. Die beiden anderen hatten ihre Vorräte längst aufgezehrt, nur Heinz hatte ein paar für Weihnachten aufgespart, für diesen Abend, und nun wollte er sie als Geschenk darbringen.
Der Älteste hatte draußen in der Dämmerung, da niemand sich in den Frostwind hinauswagte, irgendwo ein paar Zaunlatten losgerissen. Was sollten jetzt, da keine Grenzen mehr galten, kein Besitz mehr sicher war, noch Zäune? Mit dem Beil hatte er sie kleingehackt, und es war ein reichlicher Armvoll Holz, genug Feuerholz für einen Abend. Nachdem die Jungen den Kerzenstummel angezündet hatten, gingen sie hinaus auf den dunklen Flur. Frostkalt war es dort, und die Zugluft drohte die Kerze auszulöschen. Aber Dieter, der Mohr, der flachshaarige, steckte den Apfel in die Tasche und hielt die Hand schützend vor die flackernde Flamme. So gingen sie durch den langen Flur, beinahe feierlich, die sonst nur tollten und tobten, bis vor das Zimmer, darin sie Frau Worm und auch die Wöchnerin vermuteten. Sie verhielten sich ruhig und konnten drin verschiedene Stimmen unterscheiden, auch die ihrer Mutter war darunter.
Da tat sich die Tür auf, und die alte Frau Worm trat heraus, schreckte einen Augenblick zurück und wollte dann die Jungen ausschimpfen, aber als sie den Kleinsten sah mit seinem rußverschmierten Gesicht, den flackernden Kerzenstummel in der Hand, da lachte sie leise auf und sagte: „Geht nur hinein!“
Drin saß ihre Mutter am Bettrand der jungen Frau, die blaß in den Kis­sen lag. Am Boden, nahe dem Ofen, sahen sie einen Strohsack, mit einem frischen Leintuch überzogen; ein kleines Kind lag darauf, in eine wollene Decke gehüllt.
Die Mutter schüttelte mißbilligend den Kopf, als sie die Jungen eintreten sah, die unheiligen Könige; doch waren sie ganz still geworden und blickten stumm zu dem Kind hin. Es blinzelte ins Licht, bewegte unbe­holfen die Arme, als wolle es die Hand nach den Gaben ausstrecken, und dann schien es den Mund zu einem halben Lächeln zu verziehn. „Wir wollen nur etwas bringen“, sagte der Älteste, „wir sind nämlich die drei Könige aus dem Morgenland.“
Und er lud das Bündel Holz neben dem Ofen ab, behutsam, während seine Brüder den lederbraunen Apfel und die Walnüsse auf den Tisch legten. Ihre Mutter runzelte noch immer die Stirn, aber die alte Frau blinzelte ihr zu, bis auch sie lächelte. Die alte Frau nahm ein paar Stücke von dem Holz, öffnete die Ofentür und warf sie hinein. Obwohl sie noch naß waren, fingen sie doch bald Feuer, und den Jungen war, als ob sich in dem Raum allmählich Wärme verbreitete.
Die junge Frau richtete den Kopf ein wenig auf und sah sich die drei Jungen an, die sie oft erschreckt hatten; sie standen jetzt unbeholfen in der Mitte des Raumes und wußten nichts zu reden. „Ich dank euch schön“, sagte sie mit matter Stimme. „So“, meinte dann ihre Mutter, „geht jetzt wieder hinüber, ich komme gleich nach.“
Ohne sich zu verabschieden, tappten sie wieder hinaus, die drei Könige. Sie hatten sich ihren Auftritt etwas glanzvoller vorgestellt, und doch kehrten sie anders zu ihrem Zimmer zurück, als sie gekommen waren, beinahe so, als hätten nicht sie Geschenke hinübergebracht, sondern als wären sie selbst beschenkt worden.

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Geschichten aus: „Sudetendeutsches Weihnachtsbuch“ München 1965.
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